Die schwersten Stunden im Leben eines Dampfers
und wie er der Versuchung des Rauchens widerstand
Dies ist die Geschichte von Paul und Marie aus einer Kleinstadt in Baden-Württemberg. Es ist keine Dampfer-Geschichte, es ist die Schicksals-Geschichte eines Dampfers und seiner Frau. Zwei normale Menschen, wie wir alle. Die Geschichte ist real. Paul und Marie heißen eigentlich anders, die Namen wurden verändert.
Von PAUL
III.
Es war ein Montag Anfang Februar, als Marie das Haus ihres Arbeitgebers betrat. Zum ersten Mal nach ihrer fünfwöchigen Krankschreibung. Dieser Eingang war ihr so vertraut, seit 30 Jahren ging sie hier ein uns aus. Gleichzeitig war er ihr heute merkwürdig fremd. Das Haus wirkte irgendwie abweisend, kühl. Sie wischte den Gedanken fort. Nach fünf Wochen Abwesenheit war so etwas doch sicher normal.
Auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz kam ihr bereits die Chefsekretärin entgegen. „Ah, Frau S., schön, dass Sie wieder da sind. Bevor Sie an die Arbeit gehen, würde unser Personalchef Herr P. Sie gerne sehen. Er erwartet Sie in seinem Büro.“
„Ja … danke“, stammelte Marie, zuckte die Schultern. Herr P.? Was wollte der denn? Es verunsicherte sie. Marie knetete die Hände. Das Büro lag im nächsten Gang. Marie zögerte, dann klopfte sie an. „Bitte!“ dröhnte es von drinnen. Marie trat ein.
„Es freut mich, dass Sie wieder bei uns sind, Frau S.“, begann P. „Sind Sie genesen?“
Marie nickte.
„Das ist sehr schön“, fuhr P. fort. „Gesundheit ist für uns alle ein hohes Gut. In doppelter Hinsicht. Wissen Sie, was ich meine?“
Marie schüttelte den Kopf.
„Schauen Sie, es ist einfach“, sagte P. und erhob sie aus seinem Drehsessel. Wir haben hier vielfältige Aufgaben zu erledigen. Davon lebt unsere Firma, von unserer aller Arbeit. Damit verdienen wir hier alle unser Geld. Wird diese Arbeit nun aber nicht erledigt, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste ist: Andere Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter übernehmen die Arbeit. Zusätzlich. Zusätzlich zu ihrer eigenen Arbeit. Sie machen Überstunden. Viele Überstunden. Das ist die eine Möglichkeit, und das finden Sie sicher nicht schön. Es gibt sonst nur noch eine andere Möglichkeit: Die Arbeit bleibt liegen. Sie wird nicht gemacht. Was bedeutet das, Frau S.?“
P. blickte ihr in die Augen. Marie antwortete nicht.
„Ach, das ist doch auch ganz einfach“, sagte P., und es klang mitleidig, als wolle er einem Kind geduldig eine schlichte Sache erklären. „Ich sage Ihnen, was das bedeutet: No works – no money. Verstehen Sie so viel Englisch, Frau S.?“ Er drehte sich um und ließ sich wieder in seinen Schreibtisch-Sessel fallen. „Denken Sie mal in Ruhe darüber nach… Jedenfalls freue ich mich, dass es Ihnen wieder gut geht. Und,“ er machte eine Pause, „ich wünsche mir sehr, dass das nun künftig so bleibt.“ P. lächelte sie an, sein Gesicht erinnerte Marie an das Maul eines großen Fisches. Wie angewurzelt stand sie vor dem großen Schreibtisch.
„Das war’s schon“, sagte P. und griff nach einem Aktenordner. „Sie sollten jetzt an Ihre Arbeit gehen. Ist ja bestimmt einiges liegengeblieben.“
IV.
Als Paul der Polizei von dem Gespräch berichtete, war die Erinnerung wieder da: Der Abend dieses ersten Arbeitstages, als sie heimgekommen war, nervlich am Ende, sie war ihm in die Arme gefallen und hatte geweint. „So ein widerlicher Sesselfurzer!“ entfuhr es Paul. „Total abgebrüht! Seit über 30 Jahren ist Marie in der Firma, jetzt ist sie 61 und krank – aber das interessiert die ja nicht. Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen – null. Da zählt nur der Umsatz.“
Der Beamte ließ ihn ausreden, blickte dann in seine Unterlagen. „Hat ihre Frau einen PC, Notebook, Tablet, Smartphone?“
„Ja“, antwortete Paul. „Zwei Smartphones, die hat sie hiergelassen. PC ist zu Hause nicht ihr Ding, da nutzt sie eigentlich nur ihr Tablet.“
„Das Tablet ist sicher mit einer PIN gesperrt, die Smartphones auch, oder?“
„Na ja, sicher“, erwiderte Paul und musste ein wenig lächeln. „Aber ich bin ihr persönlicher Admin, wie sie das nennt, ich kenne ihre PIN, also, falls mal wieder irgendwo was klemmt.“
„Würden Sie uns die Geräte entsperren? Bitte – Sie müssen das nicht. Aber vielleicht finden wir ja irgendwelche Hinweise.“
„Selbstverständlich“, entgegnete Paul, „Moment bitte.“ Reihum entsperrte er die drei Geräte und reichte sie den Beamten, die sich sofort daranmachten, die Kommunikation des Messengers und den Browserverlauf anzusehen.
Währenddessen ging Paul auf den Balkon zu Dampfen.
„Uih“, meldete sich einer der Beamten von drinnen, „das sind ja dicke Wolken, die sie da raushauen.“
„Ich habe mit dem Rauchen aufgehört“, erklärte Paul, „jetzt dampfe ich, schon seit vier Jahren. Aber …“, er hielt inne, „na ja, im Moment habe ich wieder das verdammte Verlangen nach einer Zigarette.“
Würden sie ihm eine anbieten? Ja, vielleicht! Hoffentlich nicht!
Die Beamten nickten nur. „Hat ihre Frau auch Medikamente dabei?“
„Keine Ahnung, kann ich nicht sicher sagen. Die zwei Boxen, in denen sie alle Medikamente aufbewahrt, stehen da jedenfalls wie immer.“
„Auffälligkeiten am Auto?“
„Nein. Keine Aufkleber, keine Schäden oder so was.“
„Gut.“
Nun meldete sich der andere Beamte. „Im Browserverlauf haben wir nichts Auffälliges gefunden. Der Hubschrauber fliegt bei so einer Suche etwa 60 bis 90 Minuten. Aber alles abdecken kann natürlich auch er nicht. Der nächste Schritt wäre die Suche mit einer Hundestaffel.“ Er räusperte sich. „Zur ihrer Information, Herr S., wir sind dazu verpflichtet, beim Arbeitgeber ihrer Frau nachzufragen, ob sie zwischenzeitlich dort aufgetaucht ist, das müssen wir persönlich tun. Und dann …“, er sah Paul direkt an, „gäbe es noch zusätzlich die Möglichkeit, einen Aufruf in den Sozialen Medien zu starten – wenn Sie das möchten. Dafür bräuchten wir Ihr schriftliches Einverständnis und ein aktuelles Bild.“
„Klar.“ Paul zuckte die Schultern. Er war nie ein Freund dieser sozialen Netzwerke gewesen. Aber hier ging es nur um Eines – Marie endlich zu finden. Er senkte den Kopf. „Ich hoffe doch nur, dass alles gut ausgeht.“
Die zwei Beamten verabschiedeten sich. Paul war am Ende. Er dampfte wieder. Machte sich eine Kleinigkeit zu essen, aber er hatte kaum Appetit. Immer stärker wurde seine Angst um Marie. Draußen war es neblig geworden, die Temperaturen lagen bei etwa 3 Grad. Inzwischen war Marie seit über 24 Stunden verschwunden.
V.
Gegen 16 Uhr, als es schon langsam anfing, dunkel zu werden, bekam Paul Panikattacken. Um 17 Uhr war es fast dunkel. Das Telefon schrillte. Paul schreckte hoch, riss den Höre ans Ohr.
„Paul, Paul! Sie haben Marie gefunden! Sie lebt!“ Es war Lisa, eine Freundin von Marie. Ihre Stimme überschlug sich fast.
„Was? Wo, wo ist sie?“ Paul war wie elektrisiert.
„Ich weiß es nicht … Als ich Feierabend hatte, fuhr ich wie immer am Ortsrand um die scharfe Linkskurve, wo rechts der Waldweg anfängt, du weißt schon.“
„Ja, ich weiß, wo das ist“, sagte Paul.
Lisa erzählte. Sie war war auf dem Heimweg, als in der Kurve plötzlich das Blaulicht von Polizei und Gelblicht vom Abschleppdienst aufblitzte, die Autos stauten sich. Ein Trecker zog an einem Seil ein Auto vom Feld, einen BMW 318i. „Ich hab gedacht, das kann doch nicht sein“, sagte Lisa, „aber ich hab euer Kennzeichen erkannt!“ Sie schluckte. „Ich bin ausgestiegen, hin zu dem Landwirt, da hat er gerade das Seil schon wieder abgemacht. Ich wollte wissen, was passiert ist. Der … der war völlig verstört. Er hat gesagt, dass er Marie da auf der Wiese gefunden hat, sie saß hinterm Steuer, bewusstlos … und das Auto steckte fest. Er hat dann sofort den Rettungswagen angerufen. Marie ist schon auf dem Weg ins Krankenhaus.“
Paul atmete durch.
„Paul, wenn du Hilfe brauchst oder ich dich hinfahren soll, sag mir bitte Bescheid.“
„Ja mache ich“, sagte Paul, „danke … danke.“
Oh mein Gott, sie lebt! Paul war wie in Trance.
Paul rief im Krankenhaus an, die Notaufnahme.
„Hallo, ich bin der Ehemann von Marie S., wie geht es meiner Frau?“
„Den Umständen entsprechend.“
„Ich würde gerne vorbeischauen, um nach meiner Frau zu sehen.“
„Oh …“ sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, „das geht leider nicht. Es darf niemand ins Krankenhaus, außer den Patienten.
„Das ist jetzt nicht ihr Ernst!“ Paul war fassungslos, er wurde laut. „Ich möchte zu meiner Frau!“
„Tut mir leid“, sagte die Dame am Telefon, „Anordnung von ganz oben, wegen Corona. Sie können gerne eine Tasche vorbeibringen, mit Kleidung, Zahnbürste und so, aber sie selbst dürfen nicht ins Krankenhaus. Außerdem liegt Ihre Frau auf der Intensivstation und ist noch nicht richtig bei Bewusstsein.“
Paul war außer sich vor Wut. Er packte schnell ein paar Sachen ein und vor allem ihr kleines Smartphone. Vorsorglich nahm er den Sperrcode raus, damit Marie es einfacher haben würde, wenn sie telefonieren wollte. Dann rief er die Freundin an, die ihm angeboten hatte zu fahren.
Eine halbe Stunde später war sie da, und sie fuhren gemeinsam zur 25 Kilometer entfernten Klinik. Unterwegs erzählte Paul, was geschehen war.
„Ach du dicke Scheiße“, stieß Lisa hevor. „Die ganze Nacht im Auto bei diesen Temperaturen – oh mein Gott!“
Lisa parkte den Wagen auf einem Seitenstreifen. „Paul, geh rein, ich warte so lange.“
Paul meldete sich am Empfang. Wieder fragte er, ob er zu seiner Frau dürfte.
„Nein, das ist unmöglich“, entgegnete die Krankenschwester entschieden.
Schweren Herzens musste er die Klinik wieder verlassen. Auf dem Rückweg hingen Paul und Lisa ihren Gedanken nach. „Paul, man hat sie gefunden“, sagte Lisa, „und sie lebt. Das ist doch im Moment das Allerwichtigste.“
„Ja“, sagte Paul. „Du hast recht.“ Dann schwiegen sie den Rest der Fahrt. Paul bedankte sich für Lisas Hilfe und verschwand hinter seiner Haustür.
VI.
Paul stellte sich vor, wie Marie jetzt in dem Krankenhaus lag, auf der Intensivstation. Mit Schläuchen im Arm. Wenigstens unter einer warmen Decke. Ob sie verletzt war? Ob sie wohl Schmerzen hatte? Vermutlich würde sie schlafen, er wollte sie noch nicht anrufen.
Mitten in der Nacht klingelte das Telefon.
„Hallo, mein lieber Paul …“ Paul war wie elektrisiert. Ihre Stimme war schwach, sie röchelte etwas. „Bitte verzeih mir …“
„Marie! Wie geht es dir?“
„Es … es tut mir so leid, was ich gemacht habe, so unendlich leid.“
„Marie, es wird alles gut.“ Paul spürte einen Kloß im Hals.
„Paul, wo bin ich hier? Ich will nach Hause zu dir. Bitte hol mich, Paul.“
„Bleib ruhig, du bist im Krankenhaus.“
„Krankenhaus … Nein, ich … Warum denn?“ Sie stammelte, ihre Stimme war schwach. „Ach Paul, ich will doch bloß zu dir! Mein lieber Paul, es tut mir so leid …“
Dann brach das Gespräch ab. Marie war zu schwach. Zwei weitere Male noch rief sie an in dieser Nacht, sie wusste nicht, wo sie war, welche Zeit, welcher Tag.
Am nächsten Morgen rief Paul auf der Station an, verlangte den behandelnden Arzt.
„Bitte, sagen Sie mir, was mit Marie los ist, wie geht es ihr wirklich?“
„Ihre Frau hat eine Intoxikation erlitten“, erklärte der Arzt. „Sie hatte etwa hundert Schmerztabletten eingenommen und zwanzig Stück von einem sehr starken Beruhigungsmittel. Wir haben ihr den Magen ausgepumpt. Außerdem hat sie eine Schnittverletzung am rechten Handgelenk.“
Das Messer, dachte Paul.
„Zum Glück ist die Wunde nicht allzu tief,“ erklärte der Arzt. „Ihre Frau stand da offenbar bereits stark unter dem Medikamenteineinfluss. Und sie hat quer zur Arterie geschnitten, dies führt in der Regel nicht zu einer lebensgefährlichen Blutung.“ Und trotzdem hatte sie sich erheblich verletzt mit dem Messer.
Am nächsten Tag rief Paul den Arzt erneut an. Diese Wunde hatte begonnen zu eitern, aber das war nicht das Schlimmste. Als man Marie fand, herrschten minus 7 Grad, bei Einlieferung in die Klinik war sie bereits stark unterkühlt, dehydriert und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. „Herr S., wir haben sehr viel Glück gehabt, dass sie gefunden wurde“, sagte der Arzt. „Noch eine Nacht bei diesen Temperaturen hätte sie ganz sicher nicht überlebt.“
Fortsetzung morgen