Das Märchen von der „süßen“ Jugend
Kinder lieben Gummibärchen. Alle Kinder lieben Süßes. Nehmen wir also die Süßigkeiten aus dem Regal der Dampfer-Shops, werden die Kinder nicht anfangen zu dampfen. Jugendschutz ganz einfach – in den Köpfen einiger EU-Abgeordneter, wie etwa der Frau Michelle Rivasi aus Frankreich. Einfach ist schön, kompliziert ist anstrengend. Nur leider wird die Welt nicht einfacher, weil wir uns nicht anstrengen wollen. Denn so einfach ist das Leben meistens nicht, auch nicht mit den Süßigkeiten, man ahnt es schon.
Auch bei mir haben Gummibärchen kein sehr langes Leben. Allerdings bin ich inzwischen Mitte 50. Trotzdem liebe ich noch Vanillepuding und Marzipan.
Meine Schwester hatte kaum die ersten Zähnchen, da biss sie mit Wonne in ein Brot mit würziger grober Leberwurst. Das war ihr lieber als Marmelade.
Mir nicht. Menschen sind verschieden.
Einzelfälle, mag sein. Allgemein aber mögen Kinder Süßes und Erwachsene die bitteren Sachen – das weiß man, Punkt. Nur: Dies ist schlicht eine Behauptung, kein Wissen. Die Wissenschaft hat die Sache mit dem Geschmack aber bereits mehrmals untersucht und herausgefunden: So einfach ist das keinesfalls. Jedenfalls nicht so, wie Frau Rivasi es gern hätte.
In der Frage um Vorliebe und Abneigung geht es im Wesentlichen um zwei der bekannten Grundrichtungen des Geschmacks. Süß – denn dies heißt Zucker, heißt Nahrung. Und bitter – denn dies ist das geschmackliche Synonym etwa für Alkaloide, für Giftstoffe.
Süß: Ja, das mögen wir, prinzipiell.
Bitter: Nein, das mögen wir prinzipiell nicht.
Prinzipiell heißt: Das gilt für alle Menschen, junge und alte, Frauen und Männer. Die Frage ist lediglich, wie stark ein Reiz objektiv sein muss, damit er als begehrenswert oder als abstoßend empfunden wird. Und wie stark er vom Individuum subjektiv empfunden wird.
Dazu stellte Linda Bartoshuk von der Yale University in Denver bereits vor Jahren fest, dass es „Super-Verkoster“ gibt: Etwa ein Viertel der Menschheit nimmt Geschmack besonders intensiv wahr, darunter etwas mehr Frauen als Männer. Das lässt solche Menschen zum Beispiel bereits leicht bittere Speisen vermeiden, die andere als angenehm empfinden. Ein weiteres Viertel dagegen nimmt Geschmack deutlich reduziert wahr, und die restliche Hälfte empfindet so, wie wir es für normal halten.
Aber wie ist das nun mit dem Geschmackssinn unserer Kinder?
Das haben unter anderem Forscher vom Technologie-Transfer-Zentrum (ttz) Bremerhaven untersucht. Heraus kam: Kleine Kinder nehmen Süßes erst ab einer hohen Zuckerkonzentration wahr – 8,6 Gramm pro Liter Wasser. Ein Jungerwachsener von 20 Jahren braucht nur noch 2,1 Gramm, um die Süße zu schmecken. Das bedeutet: Je jünger der Mensch, bevor er ausgewachsen ist, desto mehr Zucker ist nötig, um dasselbe Geschmackserlebnis zu erzeugen. Das bedeutet allerdings keinesfalls, dass Kinder Süßes lieber mögen als Erwachsene! Sie brauchen nur mehr davon.
Gene geben nicht nur die Intensität der Wahrnehmung vor, sie bestimmen auch deren Qualität, etwa, ob ein Mensch Rosenkohl mag oder lieber Milchreis, auch das ist zunächst unabhängig vom Alter. Rund 50 verschiedene Gene spielen da hinein, haben israelische Wissenschaftler des Weizmann-Instituts für Wissenschaften herausgefunden. (Meine Schwester hat also wohl das Leberwurst-Gen vom Papa, ich dagegen eher nicht.)
Der nächste Faktor die Prägung. Ein Baby, das bitter schmeckende Milch bekommt, stört sich auch später nicht daran, wenn etwas bitter schmeckt. Zu diesem Ergebnis kamen Forscher vom amerikanischen Monell-Center. Wer auf „bitter“ geprägt wurde, mag später also auch gern Tabak-Aromen – und zwar nicht erst im Erwachsenen-Alter.
Aber Geschmack ist nicht nur individuell durch Prägung beeinflussbar, er ist auch „lernbar“. Das zeigte etwa das Team um Professor Russell Keast von der Deakin University Melbourne (Australien). Geschmäcke werden zugeordnet und bewertet. Wer etwas mehrmals gegessen hat, gewöhnt sich daran und bewertet es später positiv, auch wenn er es anfangs gar nicht mochte. Wer also kein Vanille-Liquid mehr bekommt, wird sich vermutlich irgendwann auch an Tabak-Liquid gewöhnen. Vor allem – auch darin sind sich Wissenschaftler einig – wenn diese Versuche von einer als angenehm wahrgenommenen Situation begleitet werden. Etwa durch die Gegenwart von Freunden.
Und wer etwas oft probiert, gewöhnt sich schneller. Wenn es um strittige Geschmacksrichtungen geht – beim Essen etwa darum, wer die schärfste Chili-Suppe auslöffelt – sind es ganz bestimmte Typen, die dies „können“, jene, die es früh und dann oft probiert haben. „Sensationssucher“ nennen die Psychologen diese Gruppe. Es drängt sie geschmacklich ebenso zu Grenzerfahrungen wie etwa zu rasanten Autofahrten oder riskanten Unternehmungen. Welche Gruppe fällt uns dazu ein? „Halbstarke“, also Jugendliche. Gerade jene, denen die Süßigkeiten genommen werden und gegen Bitterstoffe ersetzen werden sollen.
Natürlich finden sich solche Konsumenten eher unter den Männern. Den Frauen attestiert der Nürnberger Psychologe Reinhold Bergler dagegen einen anderen Umgang: Sie gehen vorsichtiger mit dem „starken Tobak“ um, eine „umfassendere Genussfähigkeit“ nennt er das. Im Lauf der Lebensjahre sind es dann auch die Männer, die aufgrund des Verlusts von Geschmacksrezeptoren die Bitterstoffe zunehmend weniger ausmachen.
Und nun kommt’s, wie es kommen musste: Frauen und Männer sind nicht gleich. Sie sollen gleichberechtigt sein, ganz sicher, aber gleich sind sie nun mal nicht, und das liegt an den Hormonen. Hormone spielen die letzte entscheidende Rolle in der Wahrnehmung und Bewertung von Geschmack, das gilt besonders für die Bitterstoffe. Die meisten Frauen reagieren darauf empfindlich, sie empfinden Vieles als bitter, worauf die meisten Männer noch gar nicht reagieren, erklärt Maik Behrens vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam. (Auch, wenn Frauen deshalb nicht zugleich auf übersüßte Aromen stehen – auch das ist ein Märchen.)
Ein hoher Testosteronspiegel lässt die Geschmackswahrnehmung leiden, so die oben erwähnten Forscher aus Bremerhaven, bitter ist dann nicht mehr so bitter. Männer haben mehr Testosteron im Gehirn als Frauen. Besonders niedrig ist der Spiegel bei Frauen, die in einer festen, schon länger andauernden Beziehung leben (bei frisch Verliebten ist das anders). Ergo: Eine erwachsene Durchschnittsfrau wird ein bitteres Liquid in den meisten Fällen deutlich weniger abgewinnen können als ihr männlicher Partner.
Fazit: Wer nur noch die bitteren Liquid-Aromen auf dem Dampfermarkt zulässt, kann einer interessierten Jugend damit nicht den Zugang zum Dampfen versperren. Die Jugend wird sich orientieren an dem, was „angesagt“ ist, wird diesen Geschmack letztlich „lernen“, wie auch immer er objektiv betrachtet sein mag. Schließlich haben sich auch die meisten Raucher ihren Zugang zu den unzweifelhaft unangenehm schmeckenden Zigaretten im Jugendalter erschlossen – wer bis 20 noch nicht geraucht hat, wird eher nicht mehr damit anfangen.
Bestraft werden mit dem Bann süßer Liquids aber die 25 Prozent Super-Empfindlichen und – ganz allgemein – die Frauen. Weil diese aufgrund ihrer Hormone die Bitterstoffe einfach nicht so sehr mögen.
Diese Wahrheit ist tatsächlich so simpel wie beweisbar.
Sollten sich in der erwarteten TPD3 also Abgeordnete wie Madame Rivasi durchsetzen, entsteht eine Gesetzeslage, die dampfende Frauen benachteiligt.
Die „süße“ Jugend ist letztlich nicht mehr als ein Märchen.
Unter Verwendung der Recherchen von: Michael Ringelsiep, Christoph Teves / planet wissen: „Wie Geschmack entsteht“; Denis Scheck, Eva Gritzmann: SIE & ER: Der kleine Unterschied beim Essen und Trinken; Jürgen Wendler / Weser Kurier: Was den Geschmack beeinflusst; Jörg Zittlau / welt.de: „So lassen wir uns beim Schmecken in die Irre leiten“; Welt am Sonntag: „Frauen schmecken besser“; Barbara Erbe / Apotheken-Umschau: „Können Frauen besser riechen als Männer?“