Der Geschichte zweiter Teil: „Dampfen tötet“

„Jana, mach schnell, sie sind uns dicht auf den Fersen!“ Ben streckt der jungen Frau seine Hand entgegen und Jana ergreift sie fest. Sie spürt, wie ihre Beine beim Laufen leichter werden, sie wird gezogen von Bens unfassbarem Tempo und seiner Kraft. Rechts, links um zwei Tonnen herum, ein paar Stufen hinauf, schon erreichen sie die Laderampe. Der Sattelschlepper wartet mit laufendem Motor. „Nun macht schon!“, ruft Anna, die Fahrerin, aus dem Führerhaus. Polizeisirenen sind zu hören, sie werden lauter, gleich biegen die ersten Streifenwagen aufs Gelände. Jana und Ben erreichen die offenstehende Tür der Beifahrerseite, Ben schwingt mit einem weiten Satz hinein, zieht Jana mit, die mit schnellen kurzen Tritten auf Reifen, Schutzblech und Rahmen flink wie beim Anlauf für einen Weitsprung in die Kabine springt. Anna gibt kräftig Gas, „festhalten!“, ruft sie und schon durchbricht der LKW die leichte Umzäunung des Geländes. Die Insassen werden hin und her geschüttelt, die Unebenheit des angrenzenden Stoppelfeldes wirkt wie ein Ultraschallbad für Erwachsene. Dann ein Wirtschaftsweg, Anna gibt mehr Gas. In weiter Entfernung ist das blinkende Blaulicht zu sehen, eine Kurve noch und sie befinden sich auf dem Zubringer zur Autobahn. „Mensch, das war knapp“, keucht Ben, noch außer Atem. Jana lacht und schnauft etwas Unverständliches, was von den beiden anderen lächelnd als Zustimmung gedeutet wird.

Knapp, ja verdammt knapp warꞌs. Aber es hat sich gelohnt, denn dieses Mal war das Glück auf ihrer Seite und sie fanden die Lagerhalle auf dem Zollhof reichlich gefüllt vor. Fässerweise PG, VG, eine komplette Palette Nikotinshots, unzählige Kartons Neuware illegal eingeführter E-Dampfgeräte. Das reiche für mehrere Leben, hatte Ben beim Beladen des Trucks gescherzt. „Sie werden uns feiern!“, entgegnete Lana.

Tatsächlich blüht der Schwarzmarkt im Jahre 2045 der Gesundheitspolitik zum Trotz. Die Bürger haben sich zu dieser Zeit längst schon von der Politik abgewendet. Vor 10 Jahren hatten die meisten erkannt, von der Regierung betrogen worden zu sein, als diese die EU vom Rest der Welt radikal abschottete. Als dann nur ein Jahr später die allgemeinen Wahlen ausgesetzt und eine europaweite Notlage ausgerufen worden war, galten bis zum heutigen Tag strikte Regeln für die Zivilbevölkerung, ähnlich wie zu Beginn der 20er Jahre bei der Corona-Pandemie, nur ohne Masken, dafür aber mit strengen nächtlichen Ausgangssperren. Europaweit!

Anna lenkt den LKW auf ein abseits gelegenes nicht asphaltiertes Gelände. Die schweren Räder ziehen mächtige Staubwolken hinter sich, die aber im Dunkel der Nacht kaum von weitem sichtbar sind. Dann verringert Anna die Geschwindigkeit und biegt in einen offenstehenden Hangar ein. Es ist ein Überbleibsel aus den 00er Jahren, in dem noch bis 2008 ein Zeppelin der Firma „Cargolifter AG“ aufbewahrt worden war. Seither ist die Halle dem Verfall preisgegeben. Es fanden sich lange keine neuen Eigentümer und wegen der politischen Umbrüche und Unruhen des letzten viertel Jahrhunderts, wurde das Gelände samt Hangar schlichtweg vergessen. In diesem abgelegenen Landstrich interessierten sich die Leute fürs tägliche Überleben, nicht aber für Reste alter Öko-Träume.

Die Drei wurden bereits von ihrer Crew erwartet. Holger, der Alte, ein Dampfer der ersten Stunde, steht gebeugt am Eingang und winkt den drei Ankömmlingen lächelnd zu. Sein letzter verbliebener Zahn glitzert dabei im Staub, durch den das Scheinwerferlicht flirrt. Paul, Janine und Joscha schicken sich an, die Entladung vorzunehmen. Nicole, die Chefin der Crew, tritt ans Führerhaus und als die Tür sich öffnet, schlägt sie der Anna mit ihrer flachen Hand kräftig auf die Schenkel: „Das war eine Meisterleistung! Du reitest das Teufelspferd! Wow!“. Das Zwielicht verhindert für die Blicke der anderen Annas Erröten. Mit Lob konnte sie noch nie gut umgehen. Doch Ben, der als letzter aus dem Truck steigt, erkennt ihre Verlegenheit und grinst. Aber er sagt nichts weiter dazu: „Kommt, lasst uns jetzt erst mal genüsslich eine dampfen“.

Seit 2036 war Dampfen nicht nur verboten, es stand unter Strafe. Die meisten Menschen hatten in ihren Hinterköpfen immer noch die Bilder, die ihnen von Seiten der Wissenschaft eingebläut worden waren, und obschon sie der Regierung und dem System längst keinen Glauben mehr schenkten, blieb bei vielen das ungute Gefühl, sich mit dem Dampfen schlimmen Schaden anzutun. Vor allen Dingen waren die jungen Leute unsicher, ob es nicht vielleicht doch zu den prophezeiten Missbildungen ihrer zukünftigen Kinder kommen würde. Deshalb verzichteten fast alle aufs Dampfen. Noch in den 20er Jahren dachte man, das Dampfen sei nicht mehr wegzudenken, doch als in Großbritannien 2028 die neue konservative Regierung binnen nur eines Jahres das Dampfen auf der Insel verboten hatte, blühte wieder all der Aberglaube auf, der davon zu berichten vorgab, wie schändlich und schädlich das Dampfen in Wahrheit sei. Europaweit wurden Produktion und Import untersagt, Restbestände beschlagnahmt und von 2036 bis 2040 wurde schrittweise selbst der Besitz von Dampfhardware unter strenge Strafe gestellt. Wie seinerzeit zu Beginn der 20er Jahre Georg Thiel durch bloßes Nichtbezahlen der GEZ-Gebühr für ein halbes Jahr ins Gefängnis geworfen worden war, so wurden all jene Dampfer bestraft, die über das Jahr 2040 hinaus Flüssigkeiten oder Dampfgeräte besaßen: ½ Jahr Gefängnis. Das führte dann für die wenigen übriggebliebenen Menschen, die angstlos lebten, zur Notwendigkeit, sich durch den Schwarzmarkt weiter zu versorgen, was wiederum der alte Holger als Möglichkeit erkannte, seiner Altersarmut zu entgehen. Er versammelte eine Handvoll junger Menschen um sich und begann alternative Versorgungsstrategien aufzubauen. Binnen eines Jahres verdienten sie bereits so gut an ihren Raubzügen der diversen Lagerstätten des Zolls, dass sie einen recht neuen LKW bar hatten bezahlen können. Bargeld stieg seit mehr als 10 Jahren kontinuierlich in seinem Wert, denn nur mit Gold oder Bargeld war man vor Verfolgung sicher. Seit 2028 sprachen die Menschen unverhohlen von zwei Wirtschaftskreisläufen: dem des Taggeldes und dem des Nachtgeldes. Mit letzterem wurden Holgers Einkünfte bezeichnet.

Holger, Nicole, Anna und Ben sitzen auf einem Reifenstapel und dampfen, während die anderen drei sich abschuften und den LKW entladen. Nach einer halben Stunde erheben sich Holger und Nicole und schlendern zu den jungen. „Was haben wir denn heute?“, fragt Nicole. Joscha, ein kräftiger Mittdreißiger ist Wortführer und zeigt den beiden die Ausbeute. Nicole spreizt ihre Finger, nimmt sie in den Mund und pfeift schrill in Richtung der anderen: „Janine, hol den Stapler!“, befiehlt sie. Janine ist die Jüngste der Schmuggler-Crew, gerade erst 18 Jahre alt geworden. Bis vor einem Jahr war ihre Welt noch in Ordnung. Sie kannte das Dampfen aus ihrer Kindheit, denn beide Elternteile waren passionierte Vaper, wie Janine das Dampfen nannte, doch sie selber hatte nie ein Bedürfnis verspürt, es ihnen gleichzutun. Durch die anonyme Anzeige eines Denunzianten kam eines Tages doch die Polizei und ertappte ihren Papa und die Mama gerade dabei, als sie zwei Verdampfer neu wickelten. Die Polizei besaß bereits seit 2021 uneingeschränkten Zugriff auf jede Privatwohnung, so dass sich ein juristisches Zur-Wehr-Setzen längst nicht mehr lohnte. Von der Polizeistation ging es direkt ins Gefängnis. Durch die Uneinsichtigkeit ihrer Eltern bei Gericht, Janines Papa beschimpfte die Richterin als „Nazischlampe“, ihre Mutter schlug eine Justizangestellte, wurde das Strafmaß für beide auf anderthalb Jahre hochgestuft. Janine war fortan alleine. Nur den alten Holger kannte sie vom Sehen. Holger ist entfernt mit ihr verwandt und er nahm sich ihrer an. Seither ist sie Teil der Schmuggler-Crew, obwohl sie noch nicht ein einziges Mal in ihrem Leben gedampft hat. Aber Janine glüht geradezu vor Hass auf den europäischen Super-Staat.

Joscha hilft Janine mit einem zweiten Stapler, dem Diesel, eigentlich für draußen. Der Hangar ist aber groß genug und sein Dach durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Sie fahren die Ware zu einer anderen Rampe, vor der zwei Containeraufbauten zum Beladen offen stehen. Sie sind schon über die Hälfte gefüllt, am nächsten Abend werden zwei LKW erwartet, die die Container bis nach Rotterdam mitnehmen. Joscha höchstselbst hatte noch bis vor einem Jahr solch einen LKW gefahren. Als er Janine zum ersten Mal begegnete, verliebte er sich auf der Stelle mit Haut und Haaren in sie. Also fragte er Holger, ob er nicht vor Ort arbeiten könne. Dieser stimmte zu und fortan besaß die Schmuggler-Crew ein Pärchen Turteltäubchen.

Mit Errichten des europäischen Super-Staates fielen sämtliche Binnengrenzen weg. Das war zwar schon vorher so, doch auch die Zollstationen verschwanden nun und wurden an die EU-Außengrenzen verschoben. Wohin die Schmuggelware letztlich geliefert wurde, wusste sogar Holger nicht genau. Jana, die Beifahrerin aus dem letzten Beutezug, wollte es aber genauer wissen und hatte vor Monaten einen Tracker in eine fabrikneue Joyetech „Viper“ versteckt. Die „Viper“ war das letzte Modell des chinesischen Herstellers bevor die chinesische Regierung das Unternehmen zerschlug. Jana konnte das Paket bis in die USA tracken. Dort galten in etwa dieselben Beschränkungen wie in Europa. Mit Ausnahme der Strafen fürs Dampfen. Alleine schon der Besitz einer Dampfe konnte mit über einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Das akustische „Pling“ des Tracking-Moduls verstummte im Hafen von New York, was Holger vermuten ließ, die Ware habe es nicht weiter geschafft und wurde abgefangen. Wenig später bestätigte sich diese Vermutung, denn Holgers Kunde bestellte ein weiteres Mal ziemlich dieselbe Ware. Die Zolllager waren noch randvoll und Jana war als Hackerin die wichtigste Person der Crew, denn ihr fiel es spielend leicht, Einblick in alle europäischen Lagerlisten zu erhalten. Dabei war sie bisher so clever, nie ihre Kenntnisse preis zu geben. Sie ist Ende 20, Janine schätzte dies einmal und Jana sagte nicht, dass sie falsch läge. Tatsächlich weiß aber keiner ihr wahres Alter. Sie ist ebenfalls eine erfahrene Dampferin, wickelt selber die unterschiedlichsten Verdampfer, doch benutzt im Wesentlichen kleine Geräte oder Podsysteme.

Ein ohrenbetäubender Knall fast zeitgleich gefolgt von einem grellen Blitz lässt alle Personen im Hangar augenblicklich innehalten. Janine ist die erste, deren Gehirn sofort den richtigen Schalter umlegt: „Alle weg! Alarm!“ Routiniert, weil monatlich geübt, nimmt jede und jeder den vorgesehenen Platz ein. Während das große Rolltor des Hangars in Stücke zerfetzt, begibt sich die Crew zur unterirdischen Fluchtröhre. Schon werden sämtliche Polizeisirenen eingeschaltet, man hört einen Hubschrauber, der über dem Hangar schwebt. Seine Suchscheinwerfer hüllen die Umgebung in geheimnisvolles zappelndes Licht, als ob ein Alien-Raumschiff sich anschickt, zu landen. Holger ist der letzte, der nach den anderen den durch eine leere Europalette perfekt getarnten Tunneleingang wieder verschließt. Er ist sicher, nicht gesehen worden zu sein, denn der Eingang liegt verwinkelt. Drumherum stehen allerhand anderer Paletten. Natürlich wird der Eingang von der Polizei gefunden werden, doch Holger ist gewiss, eine halbe Stunde Zeit zu haben. „Los auf! Geht vor!“, befielt er den anderen. Der Tunnel endet in einem angrenzenden Wohngebiet im Keller eines angemieteten Hauses. Dort stehen zwei Fluchtwagen in der Garage. Unauffällige Autos, mit denen am Morgen nach der Ausgangssperre ein leichtes Abtauchen in den Berufsverkehr möglich sein wird.

„Ich lasse dich nicht allein zurück“, beharrt Janine, doch Holger weiß, der Fluchtweg ist zu lang für seine müden Knochen. Er strengt sich an, all seine Autorität für 10 Sekunden zu bündeln: „Du gehst jetzt auf der Stelle! Ich komme in fünf Minuten nach. Los! Lauf! Los!“ Zuerst zögerlich dann bestimmt bewegt sich Janine in gebückter Haltung den anderen hinterher. Dann ist Holger alleine. Er öffnet einen Spind, auf dem ein alter Aufkleber prangt, dessen Folie an den Seiten sich leicht aufzurollen beginnt. „Dampfer-Guru“ steht in fetter Schrift darauf. Darunter in kleineren Zeichen „Meine Beichte: Ich war nie Dampfer“. Der Aufkleber stammt aus der Zeit kurz nach dem allgemeinen Dampfverbot 2036, als der Guru die Seiten wechselte und sich vom Staat dafür bezahlen ließ, nach Erfolgsprämie so viele Dampfer zu verraten, dass er von dem Geld leben konnte. „Ich hab ja sonst nichts und bin krank und arm“, rechtfertigte er sich zu jener Zeit in einem der letzten Dampfer-HangOuts. Kurz danach starb er. Geld und Verrat, beides hatte ihm nichts genutzt. Holger lächelt bei dem Gedanken, den Guru in Kürze wiederzusehen. Er öffnet den Spind und zum Vorschein kommen kartonweise Dynamitstangen. Alle sind bereits verkabelt. Die Kabel führen zu einem verplombten Schalter. „Nix digital“, lacht Holger, „allet schön analog.“ Er hört, wie die ersten Polizisten den Deckel mit der Palette öffnen, er weiß, das Dynamit reicht, um die gesamte Halle in einen Krater zu pulverisieren, er nimmt seine Dampfe aus der Jackentasche und zieht kräftig am „Heisenberg Spezial“. Dann legt er den Schalter um.

Die Erde bebt und bricht unter Getöse ein. Ein Trümmerstück erwischt das Rotorblatt des Hubschraubers, der stürzt daraufhin in die ihm entgegenkommende Druckwelle und wird in winzige Metall-, Knochen- und Gewebeteile zerlegt. Doch davon bekommt Holger nichts mehr mit. Er sitzt schon an der Bar neben dem Guru und sagt: „Heiß hier, nicht wahr?“. „Das bleibt so“, antwortet der Guru: „Barmann! Zwei Whiskey mit Eis!“ Der Barmann stellt zwei heiße dampfende Gläser vor ihnen ab. Holger staunt fragend. „Hölle halt“, grinst der Guru.

Ein Kommentar

  1. Endlich habe ich es geschafft es zu lesen. Sogar schmunzeln rang mir die Story an manchen stellen ab, gespickt mit einem gewissen nachdenken zum Thema E-Dampfen.
    Klasse geschrieben, Monomond. 👍

    Danke

    Bombus

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